Sinfonie Nr. 8 Es-Dur "Sinfonie der Tausend" (1906/07)

Uraufführung am 12. September 1910 in München unter Leitung von Gustav Mahler

  1. Hymnus: Veni, creator spiritus
  2. Schlussszene aus "Faust"
Es ist das Größte, was ich bis jetzt gemacht. Und so eigenartig in Inhalt und Form, dass sich darüber gar nicht schreiben lässt. Denken Sie sich, dass das Universum zu tönen und zu klingen beginnt. Es sind nicht mehr menschliche Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen. (Gustav Mahler an Willem Mengelberg, 18.08.1906)
Ankündigung der Uraufführung der 8. Sinfonie

Im Juni des Jahres 1906, einem der glücklichsten Mahlers, kamen Alma und Gustav Mahler in ihr Landhaus nach Maiernigg. Wie meist hatte Mahler die Befürchtung, der Sommer würde verstreichen, ohne dass es ihm zu komponieren gelänge. Eines Morgens jedoch packte ihn der Schöpfergeist, der "Creator Spiritus", mit Macht und ließ ihn acht Wochen lang nicht mehr los; in dieser Zeit schuf er ohne Unterbrechung, wie im Fieberrausch, dieses unglaubliche Werk. Die vollständige Orchestrierung und Vollendung der Partitur erfolgte im Sommer 1907.

Im April 1910 wurde die Gesangspartitur veröffentlicht; die Uraufführung, gefolgt von einer zweiten Aufführung am folgenden Abend, fand am 12. September 1910 in der Neuen Musikfesthalle in München statt. Neben acht Gesangssolisten, zwei großen gemischten Chören und einem Knabenchor wird ein verstärktes Sinfonieorchester gefordert. Bei der Uraufführung bestanden die Chöre aus rund 850 Sängerinnen und Sängern, die Anzahl der Musiker des Orchesters war auf etwa 170 Spieler erhöht worden; insgesamt wird eine Gesamtbesetzung von 1030 Mitwirkenden überliefert. Diese Zahl wurde auch in der Ankündigung der Konzerte bekannt gegeben, wodurch die Sinfonie zu ihrem Beinamen kam, der jedoch von Mahler abgelehnt worden sein soll. Unter den Besuchern der Uraufführung befanden sich viele Persönlichkeiten aus Politik, Industrie und Kultur, unter anderen Georges Clémenceau, Stefan Zweig, Thomas Mann, Siegfried Wagner, Leopold Stokowsky, Arnold Schönberg, Anton Webern und Richard Strauss. Die Aufführungen waren der größte Erfolg Mahlers, nur acht Monate vor seinem Tod, und ein Höhepunkt europäischer Kultur, kurz vor dem Ende der "Belle Epoque" und dem Beginn des dunkelsten Zeitalters in Europa.

Die Veröffentlichung der vollständigen Partitur mit den zu den ersten beiden Aufführungen erfolgten Revisionen und Korrekturen erfolgte im Januar 1911 ohne Tonartbezeichnung und enthielt eine Widmung: "Meiner geliebten Frau, Alma Mahler". Die Ehe der Mahlers befand sich auf Grund der Affäre Almas mit Walter Gropius in einer schweren Krise; vielleicht hat Mahler gerade deshalb die Sinfonie seiner Frau gewidmet.

So eigenartig seien Inhalt und Form, schreibt Mahler; doch die Form ist bei näherer Betrachtung weitaus weniger eigenartig. Mag es zunächst ungewöhnlich scheinen, dass die Sinfonie fast vollständig aus Gesang besteht, so zeigt doch das gesamte Werk Mahlers, dass er die menschliche Stimme als seiner Ansicht nach eines der schönsten Instrumente immer besonders berücksichtigt hat, und zwar nicht nur in den vielen Liedern, die er komponiert hat, sondern auch schon in der zweiten, dritten und vierten Sinfonie. Auch ist es keine Mahlersche Neuerung, Gesang in der Sinfonik einzubeziehen; man denke nur an den Schlusschor aus Beethovens Neunter. Unerwartet ist eher, dass die Chöre und Solisten der dominierende Part in der Sinfonie sind, das Orchester scheint stellenweise zur bloßen Untermalung degradiert zu werden. Doch ist dies ein möglicher erster Eindruck, der sich bei näherer Betrachtung als falsch erweist: Gesang und Orchester verschmelzen in dieser Sinfonie zu einer vollkommenen Einheit, und die wenigen Momente, da A-capella-Chor und Orchestersolo zu hören sind, schmälern diesen Gesamteindruck nicht.

Die immer wieder gestellte Frage, ob es sich überhaupt um eine Sinfonie handelt, beantwortet Kralik mit einem klaren Ja:

Für ihn [Mahler] bedeutete der Begriff Symphonie nicht bloß jenen musikalischen Formtyp, der sich in mehrhundertjähriger Entwicklung herausgebildet hatte, sondern Symphonie galt ihm - formal und geistig - als das Gefäß, das am besten geeignet war, seine ins Allgemeine, Weltumfassende, ins Kosmische strebenden musikalischen Manifestationen aufzunehmen. Eine grundsätzliche Beschränkung, dass in jenes Gefäß etwa nur Instrumentalmusik - unter Umständen mit nur geringer vokaler Beimischung - einzufließen habe, wäre von ihm aufs entschiedenste abgelehnt worden, wenn ihm die Frage darnach je gestellt worden wäre. In der Symphonie erschaute er eine ideale geistige Zusammenfassung […].

Kralik und andere vertreten außerdem die Ansicht, dass es sich auch von den formalen Anforderungen her tatsächlich um eine Sinfonie handelt: Der erste Teil, ursprünglich als erster Satz einer viersätzigen Sinfonie gedacht, dem nach einem Scherzo und einem Adagio ein weiterer Hymnus im Finalsatz gegenübergestellt werden sollte, stellt ein erweitertes Sonatenprinzip mit Exposition, Durchführung und Reprise dar, worüber weitgehend Einigkeit unter den Kommentatoren herrscht. Ähnlich der dritten Sinfonie mit ihren beiden "Abteilungen" bildet die Faust-Szene einen zweiten Teil, dem eine innere Dreiteiligkeit zu Grunde liegt, die dem Scherzo, dem Adagio und dem finalen Hymnus entsprechen. Letztere Ansicht ist jedoch umstritten.

Mit mächtigen, von der Orgel gestützten Klängen setzen die Chöre mit der lateinischen Pfingsthymne "Veni creator spiritus" ein. Der Satz beginnt gleichsam mit einem Höhepunkt, dessen Dramatik an den Augenblick zu erinnern scheint, da Mahler die Inspiration zu diesem Werk ergriff. Die vermutlich frühmittelalterliche Hymne gedenkt des Pfingstfestes, als der Heilige Geist über die Jünger Jesu kam; Mahlers Musik bezieht sich in keiner erkennbaren Weise auf den musikalisch wohl ursprünglich gregorianischen Choral.

Den 2. Teil bildet die Schlussszene aus "Faust. Der Tragödie zweiter Teil". Faust, der dem Pakt mit Mephisto zufolge der Hölle anheim fällt, sobald er im fortwährenden Streben nach Höherem einen Punkt erreicht hat, an dem ihn sein Dasein so sehr erfüllt, dass er innehalten möchte ("Verweile doch, o Augenblick, …"), wird von himmlischen Heerscharen durch die Macht der Liebe gerettet.

In Mahlers Sinfonien gibt es kein weiteres Beispiel für ein so enges musikalisches Verhältnis zwischen den einzelnen Sätzen. Musik aus Teil 1 taucht häufig fast genauso im zweiten Teil wieder auf. Darüber hinaus sind die vielen Themen und Motive so kombiniert, dass sie wie gegenseitige Variationen klingen. Man hat den Eindruck, das ganze Werk basiere auf einem einzigen Thema, das nie tatsächlich in seiner vollen Form erscheint.

Inhaltlich, also textlich, scheinen die beiden Teile zunächst in keiner Beziehung zueinander zu stehen. Jedoch gibt es eine Verbindung zwischen der Pfingsthymne und der Faust-Schlussszene: Die Liebe Gottes, wie sie uns schon im Finale der 3. Sinfonie begegnet war. In Mahlers Gedankenwelt sind Geist, Gott und Liebe eins: Veni, creator spiritus, infunde amorem cordibus - Komm, Schöpfer-Geist, gieße Liebe in unsere Herzen: Die Liebe als Urkraft des menschlichen Daseins. Hierin findet sich die Verbindung zur Schlussszene aus Faust: Dort führt die Liebe Gottes den Menschen über die Katharsis zur Erlösung und schließlich zur Apotheose.

So lässt uns das Ende der 8. Sinfonie nicht nur kraft seiner strahlenden Schönheit an den Finalsatz der 2. Sinfonie denken, sondern auch durch seinen Inhalt - der Mensch geht ein in die Liebe des himmlischen Herrschers.