Sinfonie Nr. 6 a-Moll "Tragische" (1903/04)

Uraufführung am 27. Mai 1906 in Essen unter Leitung von Gustav Mahler

  1. Allegro energico, ma non troppo
  2. Scherzo (Wuchtig)
  3. Andante
  4. Finale (Allegro moderato)

Ursprünglich stellte Mahler das Scherzo vor das Andante. Bei der Premiere 1906 entschied er sich jedoch für die umgekehrte Reihenfolge. Dennoch wählen viele Interpreten heute die obige Reihenfolge.

Don Giovanni Bühnenbildentwurf (1905) von Alfred Roller zu Don Giovanni, 1. Akt, 5. Bild (Ballsaal), Wien, Hofoper, 1905, dirigiert von Gustav Mahler
© Österreichisches Theatermuseum

In das Jahr 1903, den Beginn von Mahlers Arbeit an der Sechsten Sinfonie, fällt auch der Beginn des Höhepunktes seines Schaffens an der Wiener Hofoper, der bis 1906 andauern sollte. Mahler hatte u. a. durch seine Frau Alma Kontakte zur Wiener Secession geknüpft und erkannt, welche Bedeutung deren Künste und Künstler für die Entwicklung der Oper haben konnten. In Zusammenarbeit mit dem Mitbegründer der Secession, dem Maler, Grafiker und Bühnenbildner Alfred Roller (1864-1935), gelang es ihm, Aufsehen erregende Aufführungen zu gestalten, die Musik, Licht, Form und Farbe miteinander in Einklang brachten, Sprech- und Musiktheater im Sinne der Idee des Gesamtkunstwerks miteinander vereinten, ein für uns heute eher selbstverständliches Unterfangen, damals und besonders im traditionsverliebten Wien jedoch revolutionär. Neben dem Werk Wagners und sensationellen Neueinstudierungen wie Beethovens Fidelio (1904) oder Glucks Iphigenie in Aulis (1907) machte sich Mahler vor allem um eine Neuinterpretation der Opern Mozarts verdient. Diese Revolutionierung der Opernbühne führte aber auch zu aufkeimender Kritik der Wiener Traditionalisten an Mahler, verbunden mit Vorwürfen der Kritiker, zeitgenössische Komponisten einerseits und - wegen der vielen Konzertreisen - die Operndirektion andererseits zu vernachlässigen, ganz abgesehen von der ohnehin nicht sonderlich judenfreundlichen Wiener Presse, die ihn jetzt verstärkt anzufeinden begann, wenn es auch noch bis 1907 dauern sollte, bis eine wirkliche Pressekampagne mit dem Ziel seines Sturzes einsetzte.
Die ersten beiden Sätze der Sechsten Sinfonie schrieb Mahler im Sommer 1903, die letzten beiden im Sommer des Jahres 1904; zuvor hatte er die Kindertotenlieder vollendet und war bereits mit Entwürfen der Siebten Sinfonie beschäftigt. Die vollständige Partitur trägt das Datum 1. Mai 1905.

Die Sechste ist ein Werk von ausgesprochen pessimistischer Grundrichtung, ihre Grundstimmung stammt vom bitteren Geschmack im Trank des Lebens, sie sagt ein emphatisches Nein und sagt es vor allem in ihrem letzten Satz, in dem die Unerbittlichkeit des Kampfes aller gegen alle Musik geworden zu sein scheint. (Bruno Walter)

Rein äußerlich, formal betrachtet, ist die mittlere der drei rein instrumentalen Sinfonien 5 bis 7 die konventionellste aller Mahler-Sinfonien: Sie besteht aus den traditionellen vier Sätzen, einem Allegro in Sonatenform, einem Scherzo, einem langsamen Satz, dem Andante, und dem Finale, ebenfalls in Sonatenform. Drei der vier Sätze stehen in a-Moll und die Sinfonie beginnt und endet in derselben Tonart. Allerdings fällt sie schon allein deshalb aus dem Rahmen, da sie die einzige Mahler-Sinfonie ist, die sich an der klassischen Sinfonie orientiert; alle anderen viersätzigen Sinfonien weichen von den traditionellen Formen ab.

Aber der Inhalt, der von Mahler in das alte Satzgefüge gelegt wurde, hat mit dessen Sinn und Wesen kaum mehr etwas zu tun. Ja, man kann sagen, dass mit der Sechsten der Komponist sich am weitesten von der überkommenen Art des Musikmachens entfernt hat. Die Sechste ist seine radikalste Sinfonie. (Heinrich Kralik)

Es gibt noch einen ganz wesentlichen Unterschied zu allen anderen Sinfonien: Während alle anderen Sinfonien "gut ausgehen", in einem optimistischen, oft strahlenden und triumphierenden Dur enden, ist die Sechste die einzige, die zum Schluss auf einen verzweifelt pessimistischen Moll-Akkord prallt. Nicht nur deshalb ist die Bezeichnung "Tragische" Sinfonie absolut zutreffend, auch wenn nicht geklärt ist, ob Mahler selbst sie gewählt oder nur übernommen hat; sie trifft in jedem Fall den Grundcharakter des Werks, von welchem sich nur der dritte Satz in seiner lyrischen Haltung und seiner völlig abweichenden Tonart Es-Dur eklatant unterscheidet.

Karikatur Herrgott, dass ich die Hupe vergessen habe! Jetzt kann ich noch eine Sinfonie schreiben!
(Fritz Schönpflug in der Muskete vom 19. Januar 1907)

Als überhaupt nicht traditionell ist die Instrumentierung zu bezeichnen: Die Bläser sind beträchtlich verstärkt und verdeutlichen so den Marschrhythmus der Sinfonie: Bis zu fünf Flöten, vier Oboen und Englischhorn, fünf Klarinetten, fünf Fagotte, acht Hörner, sechs Trompeten, vier Posaunen und die Tuba verleihen den Bläsern überragendes Gewicht und lassen die Streicher in dieser Sinfonie oftmals in den Hintergrund treten, was durch die ebenfalls stark präsenten Schlaginstrumente Pauken, Glockenspiel, große und kleine Trommel, Triangel, Becken, Tamtam, Holzklapper und Rute noch unterstrichen wird; dazu kommen noch tiefes Glockengeläute sowie - als Novum - Herdenglocken und ein Hammer. Die Herdenglocken soll Mahler als das letzte Geräusch bezeichnet haben, das dem Einsamen in äußerster Höhe von der Erde her noch zuklingt: Ein Symbol des völligen Alleinseins. Die drei Hammerschläge, "kurze, mächtige, aber dumpf hallende Schläge von nicht metallischem Charakter" (Mahler), sind nach Alma Mahler Symbole dreier großer Schicksalsschläge in Mahlers Leben, die hier vorweg genommen werden.

An dieser Stelle sei mir ein kleiner Einschub gestattet, ein Zitat zur Instrumentierung bei Mahler aus der Biografie von Kurt Blaukopf:

Den Gebrauch der Orchesterwerkzeuge aber hat Mahler entscheidend verändert. Gabriel Engel, einer der enthusiastischen Vorkämpfer für die Musik Mahlers in Amerika, hat dies am Beispiel der Fünften Sinfonie dargelegt: Die Soloflöte, früher Trägerin süßlicher Melodien, erklingt bei Mahler ätherisch, frei von jedem Pathos und wie aus unendlicher Ferne; die in der Symphonie vor Mahler nicht verwendete scharfe, kleine Es-Klarinette tritt schelmisch, grotesk und oft geradezu skurril hervor; die Oboe beschränkt sich nicht auf die Melancholie der hohen Lage, sondern erklingt ungehemmt im natürlichen mittleren Register; aus dem komischen Fagott kommt plötzlich die Stimme unterdrückten Schmerzes in höchster Lage; dem Kontrafagott sind solistische, grob-bizarre Einwürfe gestattet; das Horn scheint nie zuvor eine so wichtige Rolle gespielt zu haben.
Auch für die übrigen Instrumente ließe sich dieser Katalog der ungewöhnlichen Verwendungsweise in Mahlers Orchesterkunst nachweisen. Die Methode zielt auf vielfältige Klang- und Farbdifferenzierung ab. Wo die traditionellen Instrumente nicht ausreichen, da zögert Mahler nicht, Reserven heranzuziehen. So setzt er im ersten Satz der Siebenten Symphonie das Tenorhorn ein und unterstreicht den Nachtmusik-Charakter des vierten Satzes durch die Verwendung von Gitarre und Mandoline neben der Harfe.
Die zweite Nachtmusik der Siebenten Symphonie zeigt, dass Mahler nicht bloß auf Monumentalisierung des Orchestralen bedacht war. Ähnlich wie in manchen Abschnitten der Sechsten und im Adagietto der Fünften antizipiert Mahler in dieser Nachtmusik den symphonischen Kammerstil, den Arnold Schönberg - zu Mahler aufblickend - mit seiner Kammersymphonie für fünfzehn Instrumente im Jahre 1906 etablierte.

Die Sechste Symphonie ist vielleicht das größte Rätsel, das uns Mahler hinterlassen hat; jenseits des technischen Aufbaus entzieht sie sich sämtlichen Erklärungs- und Deutungsversuchen aller Mahler-Interpreten, deren Bemühungen folglich auch entsprechend unterschiedlich ausfallen. Mehr denn sonst sollte der Hörer daher ohne Vorbehalte nur der Sprache der Musik lauschen, sie auf sich wirken lassen und seine eigenen Bilder sich unvoreingenommen entwickeln lassen.

Obwohl der dritte Satz emotional scheinbar nicht in das Gefüge passt, erscheint mir keine andere Mahler-Sinfonie so aus einem Guss zu sein wie die Sechste. Der Marschcharakter sowie die Elemente der Verzweiflung, der Tragik und der unerfüllten Sehnsucht bleiben bis zum Schlussakkord bestimmend für die gesamte Musik, nur ihre Ausprägung variiert.

Der 1. Satz wird bestimmt durch einen schweren, zeitweise bedrohlich wirkenden Marsch, der unaufhaltsam voranschreitend in einen Verzweiflungsschrei mündet, bevor ein zweites, liebliches Thema zunächst im selben Rhythmus erklingt und sich kurzzeitig bis zur Innigkeit steigert, jedoch ohne wirklich den Marschcharakter zu verlieren. Überraschenderweise hat Mahler hier das einzige Mal eine Wiederholung vorgeschrieben. Der Marsch setzt wieder ein, martialischer als zuvor, dem sich ein zart sehnendes Motiv entgegenstellt, welches aber durch schräg klingende Triller konterkariert und vom stetigen Rhythmus mitgerissen wird, bis ein Endpunkt erreicht ist, an dem die Bewegung zum Stillstand kommt und innehält; hier setzten auch erstmals die Herdenglocken ein, die das Erreichen des Gipfels und der Einsamkeit fühlen lassen. Die Bassklarinette leitet eine lyrische und hingebungsvolle Phase ein, die in mir das Bild der völligen Einsamkeit einer Hochgebirgslandschaft im Lichte des Vollmondes aufsteigen lässt. Eine ruhige und friedvolle Stimmung breitet sich aus. Doch urplötzlich setzt der Marsch wieder ein und zieht uns von diesem wunderbaren Ort unerbittlich fort. Über die Reprise gelangt der Satz mittels des zweiten Themas zu einem nur scheinbar entspannten Höhepunkt und endet dann abrupt.

Der 2. Satz ist ein Scherzo in a-Moll und weist eine klare Struktur mit zwei Trios auf. Nach zunächst stürmischem Beginn, der nahtlos an den Marsch des ersten Satzes anschließt und wieder - wie in den ersten vier Sinfonien - ironische Akzente durch quakende Töne mit Vorschlagsnoten (die sich durch den gesamten Satz ziehen) sowie schräg klingende Triller der Bläser setzt, folgt ein Trio im "altväterischen" Stil, das in seiner parodistisch übertriebenen Art an die Glissandi des zweiten Satzes der Zweiten Sinfonie denken lässt. Das ganze Scherzo wirkt wieder recht grotesk, jedoch schwingt im Hauptmotiv jederzeit ein tragischer Unterton mit. Am Ende des Satzes verringert die Musik ihr Tempo wie eine alte Dampflokomotive, die immer stärker abbremst und schließlich zum völligen Stillstand kommt.

Über Mahlers Siebte Sinfonie hat Bruno Walter geschrieben: "... der dritte (Mittelsatz) als Musikstück (ist) vielleicht das Schönste, das Mahler je geschrieben hat: eine süß-zarte Erotik lebt darin als einziger erotischer Laut, der meines Wissens in Mahlers Werken vorkommt." Sicher werden bei jedem Menschen erotische Empfindungen durch ganz unterschiedliche Musik ausgelöst - ich neige eher dazu, die Zweite Nachtmusik als das Romantischste zu bezeichnen, das Mahler je geschrieben hat, unterstrichen durch die bereits erwähnte Instrumentierung mit Gitarre und Mandoline. Eine süß-zarte Erotik empfinde ich im folgenden 3. Satz der Sechsten Sinfonie: Eine verhaltenere, zärtlichere, sehnsüchtigere und gleichzeitig verlangendere Musik hat Mahler nie geschrieben. Innigste Motive fließen in ausdrucksvoller Kontrapunktik ineinander und nebeneinander her im steten Wechsel der Tonart bis zum ungewöhnlichsten, zartesten Höhepunkt, den je ein Satz bei Mahler hervorgebracht hat: Violen, Harfe, Celesta und schließlich das einzelne Glissando der Violinen schweben in höchster, sphärischer Leichtigkeit und scheinen den Atem und den Lauf der Welt anzuhalten - doch voller Sehnsucht nimmt die Oboe das Thema wieder auf, die erlösende Entspannung findet nicht statt. Völlig unerwartet folgt der Wechsel in ein triumphales E-Dur, der zweite Höhepunkt unter Fanfaren der Hörner und Klängen der Herdenglocken: Die Musik steigert sich weiter in schwindelnde Höhen, bis nach der Rückkehr zu einem strahlenden Es-Dur das vollständige Glück, die endgültige Apotheose erreicht zu sein scheint; doch die Erregung nimmt fast ebenso plötzlich ab, wie sie gekommen ist, und zurück bleibt ein sehnsüchtiger Seufzer der Klarinette, von der Flöte weitergetragen, von der Harfe zart begleitet und den Celli sanft beendet.

Mit einer aufbrausenden Einleitung in c-Moll beginnt der monumentale 4. Satz, in welchem sich die ganze Kraft dieses überdimensionierten Orchesters entfaltet. Mit dem Wechsel zur Haupttonart a-Moll und dem erneuten Einsetzen des Marschrhythmus wird das Themenmaterial dieses in Sonatenform gehaltenen Satzes eingeführt; jeweils zu Beginn der Durchführung, der Reprise und der Coda erscheint die Einleitung wieder. Aus den Klängen der Herdenglocken, aus der Einsamkeit heraus entsteht ein zweifelnder Optimismus und eine verhalten freudige Erwartung der Wende zum Guten; der stetig vorwärts strebende Charakter der gesamten Sinfonie findet sich in diesem Satz mit besonderer Deutlichkeit, doch jedes Mal, wenn es den Anschein hat, dass der Gipfelpunkt, die Erlösung erreicht ist, wird alle Hoffnung durch einen gewaltigen Hammerschlag zunichte gemacht und alles zerbricht auf tragische Weise. Die Musik ist zerrissen zwischen Hoffnung und Zerstörung und der abschließende Höhepunkt vor der Coda in A-Dur, einer Tonart, deren sonst so strahlend helle Klangfarbe hier fast schrill wirkt, fällt kraftlos in sich zusammen. Mühsam rafft sich die Musik noch einmal auf und schleppt sich zum finalen Mollakkord, der uns ratlos, trostlos und dennoch nicht unerfüllt zurücklässt.