Sinfonie Nr. 3 d-Moll "Natursinfonie" (1895/96)

Uraufführung am 9. Juni 1902 in Krefeld unter Leitung von Gustav Mahler

  1. Kräftig, entschieden.
  2. Tempo di Menuetto. Sehr mäßig.
  3. Comodo. Scherzando. Ohne Hast.
  4. Sehr langsam. Misterioso. Durchaus ppp.
  5. Lustig im Tempo und keck im Ausdruck.
  6. Langsam. Ruhevoll. Empfunden.
Meine Sinfonie wird etwas sein, was die Welt noch nicht gehört hat! Die ganze Natur bekommt darin eine Stimme und erzählt so tief Geheimes, das man vielleicht im Traum ahnt! [...] Mir ist manches Mal selbst unheimlich zumute bei manchen Stellen, und es kommt mir vor, als ob ich das gar nicht gemacht hätte.

Um 1894 hatte Mahler in seinem Leben eine Teilung zwischen seinem Dirigentenberuf und seiner Arbeit als Komponist gefunden: Das Jahr über war er hauptsächlich mit Inszenierungen beschäftigt, während er die Sommerferien in Steinbach am Attersee mit Komponieren verbrachte, wozu er sich eigens ein kleines Häuschen errichten ließ, das gegen die Geräusche der Außenwelt abgeschottet war. Auch schien für ihn die Vollendung der Zweiten Sinfonie eine Art innerer Durchbruch als Komponist gewesen zu sein: Im Sommer 1895 begann er mit der Arbeit an seiner Dritten Sinfonie, von welcher er die Sätze zwei bis sechs zu Papier brachte; Dirigierpartituren waren bis Frühjahr 1896 fertiggestellt und im Sommer folgte der erste Satz. Ursprünglich sollte die Sinfonie sogar sieben Sätze umfassen: Das Lied Das himmlische Leben aus Des Knaben Wunderhorn sollte den Abschluss bilden, wovon melodische und motivische Variationen im ersten, zweiten und fünften Satz zeugen; es wurde dann jedoch zum Ausgangspunkt und Schlussstück der Vierten Sinfonie. Nach handschriftlichen Vermerken auf den Dirigierpartituren hat Mahler die Dritte Sinfonie etwa im November 1896 abgeschlossen.

Die Uraufführung des zweiten Satzes fand bereits am 9. November 1896 in Berlin, ausnahmsweise nicht unter Mahlers Leitung, sondern unter Arthur Nikisch (1855-1922), statt und wurde mit Begeisterung aufgenommen. Mahler selbst dirigierte diesen Satz erstmals 1897 und 1898. Felix Weingartner (1863-1942) leitete eine Aufführung des zweiten, dritten und sechsten Satzes am 9. März 1897 in Berlin. Die Partitur wurde 1899 in Wien veröffentlicht, aber erst am 9. Juni 1902 fand in Krefeld die Uraufführung der vollständigen Sinfonie statt.


Auszug aus dem Kommentar von Yasuhiko Mori:

Es ist kein Zufall, dass zwischen Abschluss und Premiere sechs Jahre verstrichen sind. Von allen Menschen war es Mahler selbst, den das enorme Anwachsen der Komposition am meisten überraschte, verstörte und durchaus in Ehrfurcht versetzte, auch wenn die Noten dazu aus der eigenen Feder geflossen waren. Hier sollten wir uns erinnern, dass Mahler gegenüber Bekannten oft bemerkte, er stehe "unter Schreibzwang". Das hieß für ihn, dass Komponieren nicht Ausdruck einer willentlichen Entscheidung war: er fühlte, dass er das Medium von etwas über ihn Hinausgehendem, in menschlichen Kategorien nicht Messbarem war und er also nur als Schreibwerkzeug diente. Die motivierende Kraft hinter Mahlers Schöpfertum liegt also völlig in unbewussten Tiefen. Nach Beginn der Arbeit sagte Mahler scherzhaft, er habe vor, nun endlich ein erfreuliches Werk zu schreiben, das ihn zum reichen Mann machen würde. Aber wenn uns ein solcher Wunsch auch zu einem gewissen Grade plausibel vorkommen mag, waren ihm solche Gedanken gegen Ende des so erstaunlich schnell komponierten ersten Satzes hin völlig irrelevant geworden. Und es war bald Mahler selbst, der sich fragen musste, ob für den ersten Satz ein derartiger Aufwand an Orchestermusikern wie auch die Länge von dreißig Minuten noch zu rechtfertigen seien. Obwohl Mahler nach der Uraufführung fünfzehn Aufführungen der Sinfonie Nr. 3 dirigiert hat, ist das Werk bis vor etwa dreißig Jahren eher vernachlässigt worden. Der englische Musikwissenschaftler Deryck Cooke z. B., der in seinen späteren Jahren ein bedingungsloser, vehementer Befürworter Mahlers war, nannte die Komposition noch 1960 einen Fehlschlag. Heute aber gilt die Sinfonie Nr. 3 als zentrales Meisterwerk sowohl bei Aufführungen als auch in der Mahlerforschung, Es handelt sich nämlich um das erste Werk, worin Mahler seinen ganzen Kosmos ausbreitet, kann also als Manifest symphonischer Metaphysik angesehen werden. Mahler-Forscher setzen den analytischen Meißel immer wieder an diesem Bauwerk an, als ob sie die Geheimnisse eines Universums aufdecken wollten, sicher aber, um von vielerlei Gesichtspunkten her das gewaltige Rätsel zu entschlüsseln. Wie vor hundert Jahren manche Sinfonien Beethovens ist auch Mahlers Dritte zahllosen Musikbegeisterten zum immer wieder zu erklimmenden, weil nie ganz bezwungenen Berg, zur immer wieder neu zu deutenden Bibel geworden.
Um die Sätze über jegliche Unausgewogenheit zu erheben, hat Mahler hier zum ersten Mal Einheiten (von ihm "Abteilungen" genannt) eingeführt, die den einzelnen Sätzen übergeordnet sind. Der erste Satz allein bildet Abteilung 1, die restlichen Sätze sind als Abteilung 2 zusammengefasst. Obwohl die vier inneren Sätze strukturell in etwa der Sinfonie Nr. 2 entsprechen, bieten die zwei Ecksätze einen größeren Kontrast: Der erste Satz ist von einer solchen Größe und Struktur, dass er in konventionellen Konzepten einfach nicht unterzubringen ist, und der sechste und letzte Satz ist gewagt langsam. Darüber hinaus weisen die Titel, die Mahler der Partitur beigefügt hat und die in der veröffentlichten Edition fehlen, wie auch andere Zeugnisse darauf hin, dass die Bearbeitung der sechs Sätze einen graduellen Anstieg durch eine kosmische Hierarchie widerspiegeln sollte. Die Sinfonie beginnt hart und kalt und lässt den Hörer an totes Gestein denken, der zweite Satz soll Pflanzen wiedergeben, der dritte Satz Tiere, der vierte Satz den Menschen, der fünfte Satz Engel und der sechste das Erringen der göttlichen Liebe. Jeder Satz trägt dazu acht Titel, worauf wir hier allerdings nicht eingehen können. Wie schon der amerikanische Historiker William McGrath hervorgestrichen hat, basiert diese Anordnung auf einer philosophischen Synthese des Denkens von Schopenhauer, Nietzsche und Wagner, die bei der jüngeren Generation Österreichs gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts enormen Einfluss hatten. Der Mensch, der sich im vierten Satz schrittweise des Schmerzes des "Welt-Willens" bewusst wird, sucht Erlösung durch die Engel des Morgens, eine Erlösung, die er dann in Gottes Liebe findet. [...]
Man ginge wohl zu weit, die Sinfonie ausschließlich von solch einer philosophischen oder programmatischen Perspektive zu interpretieren. Aber auch ohne Kenntnis der außermusikalischen Aspekte klingt in der Musik selbst unmissverständlich an, dass sie einerseits ein Bildnis des Universums ist und andererseits ein Versuch die Welt zu deuten. Kein anderes Werk Mahlers wohl, verständige Interpretation vorausgesetzt, kommt dem Hörer mit jedem neuen Hören immer kürzer vor. Die beim ersten Anhören so charakteristische Weitschweifigkeit nimmt mit wachsender Intimität ab und verschwindet dann völlig."

Im Allgemeinen wird die Sinfonie Nr. 3 als d-Moll-Sinfonie bezeichnet; sie beginnt in d-Moll und endet in D-Dur. Abweichende Meinungen in der Musikwissenschaft verweisen darauf, dass Mahler den ersten Satz als Sonatensatz mit Präludium angesehen hat, welcher eine ungewöhnliche Form besitzt und in F-Dur endet, eine Tonart, die hier eine so bedeutende Rolle spielt, dass man durchaus dazu neigt, von einer F-Dur-Sinfonie zu sprechen.

Der gewaltige 1. Satz bildet die Abteilung I und wurde einst von Mahler so beschrieben: "Pan erwacht, der Sommer marschiert ein, da klingt es, da singt es, von allen Seiten sprießt es auf. Und dazwischen wieder so unendlich geheimnisvoll und schmerzvoll wie die leblose Natur, die in dumpfer Regungslosigkeit kommendem Leben entgegen harrt." Ähnlich wie im Schlusssatz der Zweiten Sinfonie werden thematische Gruppen mit dazwischen liegenden Pausen eingeführt. Das Hauptthema (welches stark an das zentrale Thema im Finale von Brahms' 1. Sinfonie erinnert), ein Marsch in F-Dur, wird von acht Hörnern vorgetragen, doch gleich kippt die Stimmung in düsteres d-Moll, unheimlich untermalt von knarrenden Fagotten und sehnsüchtig klagenden Posaunen, während Trompeten wie ein fernes Echo auf die Holzbläser Rufe ertönen lassen, die, von zarten Flöten und der Oboe eingeleitet, ein liebliches Violinsolo herbei locken: die Natur erwacht! Schwere Posaunentöne setzen ein, noch reibt die Welt sich die Augen, doch das Orchester hat sich gesammelt, findet zusammen und beginnt einen fröhlichen und temperamentvollen Marsch, der phasenweise an einen Zirkus erinnert, der in die Stadt einzieht. "Sehr drängend" und "mit höchster Kraft" endet eines der großen musikalischen Fresken Mahlers.

Die übrigen Sätze bilden Abteilung 2 der Sinfonie. Wie bei der Zweiten Sinfonie sind der 2. Satz ein Menuett, der 3. Satz ein Scherzo und im 4. Satz erhebt sich ein düsteres Altsolo.

"Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen" überschrieb Mahler den 2. Satz, der einen anmutigen und unbekümmerten Charakter besitzt. Die Oboe leitet ein beschwingtes und liebliches Menuett ein, im Wechselgesang mit Klarinette, Flöte, Horn, bevor Harfe und Streicher sich in die grazile Linienführung einschalten. Man sieht die Wiesen und Felder im Lichte der Sommersonne vor sich, während Schmetterlinge und Hummeln fröhlich um die Blüten schwirren, wobei auch einmal ein stürmischer Wind durch das Treiben fegt.

Nach dem Erwachen der Natur und den Blumen folgen die niederen Lebewesen: "Was mir die Tiere im Walde erzählen" lautet der 3. Satz. Wieder - wie in der Zweiten Sinfonie - ist ein Hauptmotiv die Paraphrase eines Wunderhorn-Liedes und wieder spielen die Bläser, vor allem die Holzbläser, eine herausragende und witzige Rolle, doch im Gegensatz zur Zweiten Sinfonie fehlt diesem Satz jegliche Schärfe, jeglicher Hohn. Die Freundlichkeit des 2. Satzes wird hier auf fröhliche, humorvolle und äußerst dynamische Weise fortgeführt. Das heitere und bunte Treiben der Tiere des Waldes findet jedoch zweimal zu verhaltenem Lauschen und zu einem außergewöhnlichen Höhepunkt des Satzes, ja des gesamten Werks: Durch die Stille erklingt aus der Ferne einsam ein Posthorn, ein lyrisches Intermezzo des Flügelhorns, vielleicht das schönste Innehalten aller Sinfonien Mahlers, ein zauberhafter, poetischer Augenblick. Doch am Ende des Satzes entfesselt Mahler die Elemente und ein Sturmwind, eine Schreckensvision, fegt über Welt und Zuhörer.

Dies leitet nahtlos über zum 4. Satz, "Was mir der Mensch erzählt". In geheimnisvoller und leicht düsterer Stimmung erklingen die Worte "O Mensch! Gib acht!" aus Also sprach Zarathustra im Altsolo. Der Philosoph Friedrich Nietzsche, der ein Zeitgenosse Mahlers war, erreichte gegen Ende des 19. Jahrhunderts große Popularität und beeindruckte neben Richard Strauss viele andere Künstler.

Der Satz wirkt fast wie ein impressionistisches Gemälde: Die verschiedenen Instrumente malen Klangtupfer, Naturlaute, kurze Phrasen und wogende Figuren, die herannahen und wieder abebben und der Altstimme auf diese Weise einen sanften, liebkosenden Rahmen geben.

Ohne Unterbrechung schließt sich der 5. Satz an: "Was mir die Engel erzählen." Ein Knabenchor, von hell strahlenden Glocken begleitet, intoniert aus Des Knaben Wunderhorn das Armer Kinder Bettlerlied, das mit leuchtenden Farben brilliert und wohl in erster Linie auf das fröhliche Jauchzen und die himmlischen Freuden abzielt; der mittlere Teil, von Altsolo und Frauenchor interpretiert, ist vom Text her weniger fröhlich und dem folgt auch die Musik, die deutlich schwermütiger und gebrochener wird.

Den gewagten, umfassenden Schlusssatz bildet das D-Dur-Adagio "Was mir die Liebe erzählt." Mahler schrieb dazu: "Ungefähr könnte ich den Satz auch nennen: 'Was mir Gott erzählt', und zwar eben in dem Sinne, dass Gott nur als Liebe gefasst werden kann."

Wir haben die Erste Sinfonie, das Bild des Titanen, gehört; wir haben ihn zu Grabe getragen und noch einmal sein Leben an uns vorüberziehen lassen. Nach einer Pause, in der wir uns wieder sammelten, haben wir die Geschichte der Natur und des Lebens gehört. Wir sind am Ende des ersten Teils Mahler'schen Schaffens angelangt: Auf die Irrungen und Wirrungen der menschlichen Existenz folgt endlich der erlösende Triumph reiner Musik: Ein gut zwanzigminütiges Finale, wie ich kein vergleichbares kenne, lässt uns erbeben und hebt uns in den Zustand der inneren Erschöpfung, aber auch der geistigen und seelischen Erfüllung und des vollkommenen Glücks.