Uraufführung am 20. November 1889 in Budapest unter Leitung von Gustav Mahler
Midi-Dateien von Jean-François
Lucarelli
Der genaue Zeitpunkt des Entstehens der Ersten Sinfonie ist nicht bekannt. Aus
Äußerungen von Mahlers Freunden und Bekannten lässt sich entnehmen, dass Mahler schon als
Jugendlicher und Student am Wiener Konservatorium insgesamt vier Sinfonien geschrieben haben soll, die
entweder von ihm selbst vernichtet wurden oder im Verlauf zweier Weltkriege verloren gegangen sind. Mahler
selbst hat Jahre später dieses Werk seine "Sinfonie Nr. 1" genannt. Engen Freunden zufolge hat er
1885 mit der Arbeit daran begonnen, wahrscheinlich scheint, dass der größte Teil erst 1888
entstanden ist.
Es war wohl von Anfang an Mahlers Verlangen, Komponist zu werden, doch musste er nach dem Verlassen des
Konservatoriums im Jahre 1880 zunächst als Dirigent seinen Lebensunterhalt bestreiten; nacheinander
bekam er kleinere Engagements in Bad Hall, Laibach (Ljubljana), Olmütz (Olomouc) und an der
Italienischen Oper Wien. In dieser Zeit glaubte er für größere Kompositionen keine Zeit zu
haben. 1880 komponierte er "Das klagende Lied", 1884 entstanden die "Lieder eines fahrenden Gesellen", 1886
war er in Leipzig engagiert und wurde von Carl Maria von Webers Nachfahren beauftragt, dessen unvollendete
Oper "Die drei Pintos" zu vollenden. Im Oktober 1887 war er damit fertig, die durchaus erfolgreiche
Uraufführung fand am 20. Januar 1888 statt.
Offenbar bestärkt durch diese Anerkennung widmete er seine Zeit wieder der Komposition eines
Orchesterwerks, das anscheinend zunächst nicht als Sinfonie gedacht war und von ihm Ende März
1888 mit zu diesem Zeitpunkt noch fünf Sätzen fertiggestellt wurde. Im Herbst fand er eine
Anstellung in Budapest, wo er die Instrumentierung vollendete und im darauf folgenden Jahr die
Uraufführung unter der Bezeichnung "Sinfonische Dichtung" wie bei fast allen seiner späteren
Werke selbst leitete, wobei das Werk von Kritik und Publikum kühl und verständnislos aufgenommen
wurde.
Wie bei seinen späteren Werken auch begann Mahler schon während der Proben und Aufführungen
mit Änderungen; der ursprüngliche zweite Satz, "Blumine", nach einer Essaysammlung von Jean Paul
[Richter] (1763-1825) mit dem Titel "Herbst-Blumine" (1810), wurde von ihm noch vor der
Veröffentlichung der Sinfonie ganz gestrichen (er wurde erst 1959 in London wiederentdeckt).
Auch der Titel der Sinfonie ist einem Werk von Jean Paul, dem Roman "Titan", entnommen. Mahler hatte einen
kraftvoll-heldenhaften Menschen im Sinne, sein Leben und Leiden, Ringen und Unterliegen gegen das Geschick.
Ursprünglich als sinfonische Dichtung ohne Programm aufgeführt, gab Mahler dem Werk später
Erläuterungen mit, und erstmals wurde es 1896 in Berlin als programmatische "Sinfonie Nr. 1" unter
Mahlers Leitung aufgeführt, als er die Zweite Sinfonie bereits fertig hatte und dabei war, die Dritte
zu komponieren. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Mahler, ein noch junger und unbekannter Komponist, auf
Grund der eigenwilligen, kühnen Form seiner Komposition es zunächst nicht gewagt hatte, sein
Werk eine Sinfonie zu nennen.
Die programmatische Erläuterung Mahlers anlässlich der Hamburger
Aufführung 1893 der "Sinfonischen Dichtung in zwei Theilen":
1. Theil: "Aus den Tagen der Jugend". Blumen-, Frucht- und Dornstücke |
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I. |
Frühling und kein Ende (Einleitung und Allegro comodo) |
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Die Einleitung stellt das Erwachen der Natur aus langem Winterschlafe dar. |
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II. |
Blumine (Andante) |
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III. |
Mit vollen Segeln (Scherzo) |
2. Theil: "Commedia humana" |
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IV. |
Gestrandet (ein Todtenmarsch in "Callots Manier") |
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[...] Die Thiere des Waldes geleiten den Sarg des gestorbenen Dichters zu
Grabe; Hasen tragen das Fähnlein, voran eine Capelle von böhmischen Musikanten, begleitet von
musicirenden Katzen, Unken, Krähen etc., und Hirsche, Rehe, Füchse und andere vierbeinige und
gefiederte Thiere des Waldes geleiten in possirlichen Stellungen den Zug. An dieser Stelle ist dieses
Stück als Ausdruck einer bald ironisch-lustigen, aber unheimlich brütenden Stimmung gedacht,
auf welche dann sogleich |
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V. |
"Dall' Inferno al Paradiso" (Allegro furioso) |
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folgt, als der plötzliche Ausbruch der Verzweiflung eines im Tiefsten verwundeten Herzens. |
Der 1. Satz beginnt mit einer langen Einleitung. Die Streicher spielen ein fast
harmonisches "a" vor dem Hintergrund von Naturlauten, aber auch ferner militärischer Musik. So erwacht
die Musik aus einem Nichts, wie die Natur des Morgens aus dem Dunkel der Nacht erwacht, und gleitet
über in die Stimmung einer Morgendämmerung, eines Frühlingserwachens, des Menschen Jugend.
Den Hauptteil des Satzes bildet eine Paraphrase des Lieds "Ging heut' morgen über's Feld" aus dem
Zyklus "Lieder eines fahrenden Gesellen" und unterstreicht die Stimmung des ganzen Satzes: Eine heitere,
lebensfrohe, lebensbejahende Haltung angesichts der Schönheit von Welt und Natur.
Formal folgt der Satz keinem konventionellen Schema, wenn er auch auf Sonatenform basiert. Er besitzt keine
Kontrapunktik, auf die Exposition folgt an Stelle der Durchführung ein im Grunde heiterer Reigen von
neuen Motiven und Seitenthemen, die Reprise bezieht Motive aus der Durchführung ein und besitzt
gleichzeitig den Charakter einer Coda. Zur damaligen Zeit wirkte er für sich gesehen sicherlich als
Kontrapunkt zur schweren und schwermütigen Musik der ausklingenden Romantik.
Der 2. Satz ist ein kraftvolles, traditionelles Scherzo, basierend auf eher derben
Ländlerweisen mit einem anmutigen Walzertrio. Man könnte versucht sein, einen Vergleich zu
Beethovens Pastorale zu ziehen; auf das Erwachen der heiteren Empfindungen folgt das Tanzfest auf dem
Lande und anschließend die Gewitterstimmung des 3. Satzes.
Der 3. Satz ist der eigentliche Höhepunkt der Sinfonie: Basierend auf dem
bekannten Volkslied "Bruder Jakob" setzt zunächst ein Trauermarsch in unheimlich-düsterer
Stimmung in d-Moll ein mit einem Kontrabass-Solo, das nur von Pauken begleitet wird und in
ungewöhnlicher Instrumentenfolge (Fagott, Cello, Tuba) wiederholt wird, doch schon nach ein paar
Takten verändern eine parodistische Oboe und Flöte mit kontrapunktierenden Gegenmelodien die
Stimmung ins Sarkastisch-Groteske, nur noch übertroffen von der Es-Klarinette ("Mit Parodie"). Mit
einem Male jedoch entschwindet die drohende Stimmung und ein Sonnenstrahl erscheint, liebliche
Harfenklänge, die zum Mittelteil überleiten, und eine zarte und innige Weise erklingt: Aus dem
vierten Lied des Zyklus "Lieder eines fahrenden Gesellen" ertönt "Auf der Straße steht ein
Lindenbaum", getragen vor allem von den Streichern und erhöht von lieblich hervortretenden Phrasen
der Holzbläser. Manch einer mag hierin das Bild des Todes als Flucht- und Ruheort sehen. Doch ebenso
überraschend, wie es begonnen hat, ist es auch wieder vorbei, und die Pauke holt uns zurück in
die düstere Anfangsstimmung, gebrochen von der Es-Klarinette ("keck"). Mit einer weiteren Paraphrase
von "Die zwei blauen Augen" kann das dräuende Unheil zunächst scheinbar abgewendet werden, doch
ebbt der Satz in düsterer Stimmung ab.
Es folgt der 4. Satz, "der plötzliche Ausbruch der Verzweiflung eines im
Tiefsten verwundeten Herzens", ein wilder Ausbruch des ganzen Orchesters. Die Musik scheint über die
irdischen Qualen und Lasten zu triumphieren, der Hölle zu entrinnen, in einer
sehnsuchtsvoll-melancholischen Streicherpassage dem Paradies entgegenzustreben (dall'inferno al paradiso),
aber Vorbehalte und düstere Nebengedanken tauchen immer wieder auf und werden zunächst nicht
aufgelöst. Der "Held" ist qualvoll dem Leid der Welt und des Todes in furchtbarem Kampf preisgegeben.
Schon scheinen Trompeten und Hörner den Sieg zu verkünden, doch müssen wir erst noch einmal
durch das Thema der Exposition des 1. Satzes; sehnsuchtsvolles Streben zurück zum irdischen Leben
erwacht, eine Erinnerung an die Jugend, welche drohend zurückgedrängt wird. Schließlich
leiten wieder die Trompeten doch noch den erlösenden Triumph in D-Dur ein; es ist der Triumph im Tode,
doch mit dem 1. Satz der Zweiten Sinfonie erstirbt das Triumphgefühl im Trauermarsch.
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