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Gustav Mahler (1860-1911)
Eliahu Inbal: Mahlers Musik

Mahlers Musik wirkt manchmal auf mich wie eine Bibel, wie ein Katalog menschlicher Gefühle, Probleme, Erlebnisse, Charaktere; sie ist so allumfassend, dass man sie beinahe als himmlische Stimme betrachten kann.

The Complete Symphonies

Für mich sind die Sinfonien von Mahler eine Einheit, eine gigantische Sinfonie mit elf Sätzen, besser noch ein einziger großer Roman mit elf Kapiteln. eben den zehn Sinfonien und dem "Lied von der Erde". Alles in diesem Roman bezieht sich aufeinander, wird verständlich - und richtig interpretierbar - nur aus dem Kontext des Ganzen. So ist z. B. die 8. Sinfonie nur im Zusammenhang mit der 9. und dem "Lied von der Erde" richtig zu verstehen. Vor dem "Lied von der Erde" und vor der 9. Sinfonie konnte nichts anderes als die 8. Sinfonie entstehen, wie bei einem Sterbenden, der kurz vor seinem Tod den Augenblick der Euphorie erlebt. Denn die Achte vermittelt nur den Anschein von Jubel, Freude und Weltfrieden. Beim genauen Hinhören spürt man immer wieder etwas Forciertes im nur illusorisch optimistischen Jubel. Es ist eine Flucht ins Grandiose; der schreiende, zweifelnde und suchende Mahler ist gegenwärtiger als je zuvor. Das erkennt man besonders deutlich im Blick auf die Romankapitel, die nach dem Achten folgen. Die 8. Sinfonie erzwingt geradezu die Entstehung der 9. mit ihrer Verklärung und Bereitschaft zum Tode.

Man muss bei Mahler den Mut zum Hässlichen und Banalen als ästhetisches Ausdruckselement haben und mit dem Orchester erarbeiten. Orchestermusiker neigen manchmal aufgrund eines spezifischen Verständnisses von Musikkultur zum Verschönern. Selbst bei Komponisten wie Mozart ist das nicht durchweg am Platze. Was z. B. das Staccato anbelangt, neigen vor allem die Holzbläser oder auch die Hörner dazu, es zu verschönern, also anstatt quasi abgerissene Staccati zu spielen, sie etwas weicher zu machen; man sagt dann meistens: sie etwas musikalischer zu spielen, kultivierter, eleganter. Das mag generell vielleicht sogar richtig sein, aber manchmal muss der Dirigent doch eher das Verbissene, das Klare, das Fanatische, das Hässliche als ästhetisches Element auch bei Mozart oder bei Beethoven, erst recht natürlich bei Mahler verlangen. Ein Dirigent kann Mahlers Musik nur partiturgetreu interpretieren, wenn er sie als zerrissene, immer in sich kämpfende Musik darstellt. Ständig kämpfen bei Mahler die Elemente gegeneinander: wenn das Schöne da ist, ist auch das Hässliche dabei; manchmal muss man sehr auf der Hut sein, es auch deutlich genug herauszubringen. Die ständige Zerrissenheit bei Mahler braucht einen besonderen Typ von Interpreten, jemanden, der solche Zerrissenheit entweder selbst besitzt - und viele Künstler besitzen sie -‚ oder in dem durch seine Lebensumstände eine Resonanz dafür besteht. Dann kann er nicht anders, als die gegensätzlichen Elemente herauszuarbeiten. In Mahlers Musik ist Zerrissenheit sowohl Bruch wie Zusammenhang.

Ich bin sicher, dass wir alle erst nach dem Zweiten Weltkrieg reif waren, Mahlers Musik zu verstehen; nicht von ihrer "technischen" Seite her, auch nicht von jener Seite, die der zeitgenössischen Musik am nächsten steht, sondern unter dem Aspekt des Weltverständnisses, das sich in ihr niederschlägt. Eine Katastrophe wie im Finale der 6. Sinfonie ist erst begreiflich nach Hiroshima und Auschwitz.

Mein Interpretationsziel war es, innerhalb der strengen sinfonischen Struktur, die niemals zerstört werden darf, den Gegensätzen und den Extremen dieser Musik ihre volle Entfaltungsmöglichkeit zu lassen und als drittes Element das typisch Mahlersche Orchesterkolorit bzw. die volkstümlichen Einflüsse herauszuarbeiten.

Um die interpretatorische Konsequenz und die Einheit des sinfonischen Werkes von Mahler zu erreichen, fand ich es notwendig, diesen Zyklus chronologisch und in kurzer Zeit in demselben Konzertsaal (der wunderschönen Alten Oper Frankfurt) zu verwirklichen, vor dem gleichen Publikum und vor allem mit demselben Orchester, das nach jahrelanger kontinuierlicher Arbeit mit Mahlers Sprache zutiefst vertraut ist.

Mahlers Sinfonien sind unserer aktuellen Wirklichkeit aufregend nah. Das spüren wir heute noch intensiver als vor 10 Jahren. Mahler ist der moderne Komponist schlechthin. Seine Musik spiegelt fast alle unsere heutigen Hoffnungen und Ängste wieder und das für viele, viele Menschen.

Eliahu Inbal

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