Auch wenn ich mit dem nachfolgenden Auszug aus dem Werk von Frank Berger nur bedingt
übereinstimme, halte ich ihn doch für diskussionswürdig:
Gustav Mahlers Sinfonien als Entwicklungspolaritäten
"Meine ... Sinfonien erschöpfen den Inhalt meines ganzen Lebens ... Und wenn
einer gut zu lesen verstünde, müsste ihm in der Tat mein Leben darin durchsichtig erscheinen
... Der Parallelismus zwischen Leben und Musik geht vielleicht viel tiefer und weiter, als man jetzt
noch zu verfolgen imstande ist."
Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, S. 26; Brief an Max
Marschalk vom 17.12.1895, in: Gustav Mahler Briefe S. 141
Betrachten wir zusammenfassend die Ergebnisse unserer bisherigen Untersuchungen, so
wird ein Ur-Dualismus erkennbar, der Werk und Persönlichkeit Gustav Mahlers durchzieht. Es
ist letztlich der Gegensatz von Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits, zwischen der geistigen,
übersinnlichen Welt und der irdischen, sinnlichen Welt.
Mahler richtet seinen Blick aus dem "irdischen Leben" immer wieder sehnsuchtsvoll auf das "himmlische
Leben". Dies bewirkt den "eschatologischen Zug" seiner Musik. Als Mittler zwischen den beiden
Welten erscheinen bei ihm das "Kindesprinzip" und das Prinzip des "Ewig Weiblichen". Beiden ist
gemeinsam, dass sie uns "hinanziehen" in jene ersehnte höhere Daseinsform. Dennoch gibt es einen
charakteristischen Unterschied zwischen beiden Agenzien. Erscheint das "Kindesprinzip" deutlich
rückwärts gewandt und von der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies begleitet, so ist dies
bei dem "Ewig Weiblichen" anders: Es ist deutlich von der Zukunft her wirksam, ganz im Sinne
der Worte: "Wenn er dich ahnet, folgt er nach."
Zwischen dem verlorenen Paradies und dem "neuen Himmel" liegt das "irdische Leben". Damit erweitert
sich der ursprüngliche Dualismus zu einer Polarität - einem Spannungsfeld, in dem das
irdische Leben, das Erdenleben, wie ausgespannt erscheint zwischen Vergangenheit und Zukunft:
Das irdische Leben erscheint hier wie ein Durchgangsstadium zwischen geistigen
Daseinsformen. Dabei muss allerdings ein innerer Wendepunkt, eine Umorientierung eintreten, sonst
bliebe nur das rückwärts gewandte, vergangenheitsbezogene Agens wirksam. Dieser Punkt liegt
offensichtlich irgendwo in der Mitte jenes Kräftefeldes.
Betrachten wir nun einmal das Gesamtwerk unter diesem Blickwinkel!
Wir führten es bereits aus (in Anlehnung an Mahlers eigene Periodisierung, die im Wesentlichen
von Bruno Walter und Paul Bekker übernommen wurde): Die ersten Sinfonien bis einschließlich
der Vierten sind von der "Wunderhorn-Sphäre" her bestimmt. Das "Kindesprinzip" ist wirksam.
- Die mittleren Sinfonien stehen im Zeichen der Kämpfe, der Auseinandersetzung mit den handfesten
irdischen Realitäten. Hier ist jenes "Rettende" kaum noch sichtbar. Das Lied, als Repräsentant
der "anderen Welt", ist verstummt. In diesem Bereich liegt jedoch auch der innere Umschlagspunkt, der
die Wende einleitet. In den Kindertotenliedern manifestiert er sich [...]. - Ab der Achten
Sinfonie ist das Lied, das vokale Element, in gesteigerter und metamorphosierter Form wiedererrungen.
Das Ewigkeitsprinzip ist in neuer, nun nicht mehr resignativer, sondern lebensbejahender Form (als
"Ewig Weibliches") gegenwärtig.
Schematisierend ließe sich sagen:
Das Frühwerk (der erste Sinfonienkreis) steht im Zeichen der Kindheit, der Geburt, der
Vergangenheit; die späten Sinfonien und Das Lied von der Erde stehen im Zeichen des Alters,
des Todes, der Zukunft. Dazwischen siedeln sich die mittleren Sinfonien an, die große mittlere
Lebensphase, den "großen Mittag" des Lebens repräsentierend.
Die biografische Polarität ist also zugleich eine werkimmanente.
Mahlers Werk ist zutiefst subjektiv-persönlich geprägt. Und doch weist es über das rein
Persönliche hinaus. Denn jede menschliche Biografie, das heißt unser aller "irdisches Leben"
zwischen Geburt und Tod, steht im Grunde unter derselben Polarität. Ja, diese ist, unter einem
gewissen Blickwinkel, ihr Grundgesetz.
Daher ist es aufschlussreich, die beiden Abschnitte dieses Weges: den absteigenden, "inkarnierenden",
und den aufsteigenden, "exkarnierenden", auch hinsichtlich des Gesamtwerks einander einmal
gegenüberzustellen. Es werden dann die imposanten Stationen einer biografisch-seelischen wie auch
künstlerisch-geistigen Lebensleistung sichtbar:
Es mag zunächst überraschen, ja irritieren, dass hier eine solche
Gesetzmäßigkeit walten soll. Wir sind nicht mehr gewohnt, derartigen
überpersönlich-objektiven Prägungen im Schaffen großer Persönlichkeiten
Geltung einzuräumen. Hier darf jedoch daran erinnert werden, dass Mahler selbst davon
überzeugt war, seine Musik sei nicht "seine" persönliche Leistung, sondern wie von
höherer Weltennotwendigkeit ihm inspiriert und abgefordert: "Man ist sozusagen selbst das
Instrument, auf dem das Universum spielt." Der Künstler als ein Organ des Weltenwillens, als ein
im wahrsten Sinne Berufener - solche Vorstellungen mögen uns heute suspekt erscheinen. Fest steht
jedoch - und daran kommt keine Polemik vorbei -, dass sowohl Mahler als zum Beispiel auch Richard
Wagner und Arnold Schönberg ihre historische Mission durchaus realistisch erkannt und
eingeschätzt haben. Man könnte das gängige Bild daher ruhig einmal umkehren und
behaupten: Erscheinungen wie Mahler oder Schönberg sind geradezu Beweise par excellence für
das Walten innerer Entwicklungsgesetzmäßigkeiten der Kultur- und Geistesgeschichte.
Frank Berger
Berger, Frank: Gustav Mahler - Vision und Mythos. Versuch einer geistigen Biographie,
Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1993 |