Die Belle Epoque in Europa
Frankreich
Die Schule von Nancy

Bevor Lothringen im Jahre 1766 französische Provinz wurde, war Nancy die Hauptstadt des Herzogtums, geprägt ebenso von imposanten mittelalterlichen Bauwerken wie von Renaissancepalästen und den barocken Prachtbauten des polnischen Exilkönigs Stanislas, dem Schwiegervater Ludwigs des XV., der als letzter Herzog von Lothringen das heutige Gesicht von Nancy entscheidend prägte.
Die für Frankreich militärische und menschliche Katastrophe in der Folge des deutsch-französischen Kriegs von 1870/71, bei dem Elsass zur Gänze und ein großer Teil Lothringens an das Deutsche Reich verloren gingen, führte in Nancy, das nunmehr Grenzstadt geworden war, am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem nie dagewesenen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Viele Elsässer und Lothringer flüchteten aus den deutsch gewordenen Provinzen in die alte Hauptstadt, deren Einwohnerzahl sich auf 100.000 verdoppelte und aus Nancy eine strahlende neue Kapitale machte, deren Prosperität wiederum zahlreiche Menschen anzog. Dies brachte neue Häuser, Wohnviertel, ein reges Geschäftsleben der kleinen und großen Kaufhäuser, Ansiedlung von Industrie sowie Büros und Banken hervor. Das Departement Meurthe-et-Moselle wurde durch die Gründung neuer Eisenminen und die Entwicklung der Metallurgie zu einem reichen Land, auch die verarbeitende Industrie, vor allem Metallbau und Kupferschmieden, erfuhren einen außergewöhnlichen Aufschwung. Am Rande der Stadt entwickelten sich die traditionellen Industriezweige wie Brauereien, Gerbereien und Glasbläsereien. Unter diesen wirtschaftlichen Voraussetzungen entstand ein intellektuelles Leben und eine künstlerische Bewegung noch nie gekannten Ausmaßes.
Auch der Ruf der Hochschulen und Universitäten wurde durch die Exil-Elsässer beeinflusst; so reformierte beispielsweise Théodore Devilly aus Metz als Leiter der Ecole municipale de dessin de Nancy (Kommunale Schule für Grafik) die Lerninhalte und lenkte die Aufmerksamkeit der Schüler auf das Studium der Formen in der Natur. Außerdem bildete er schon technisch fähige Künstler aus im Hinblick auf die Bedürfnisse der ortsansässigen Industrie. Mit der Rückkehr zur Natur beschäftigte sich auch Emile Gallé (1846-1904), der die dekorativen Künste vom Diktat der Stile befreite. Bereits 1884 erregte er in Paris auf der Ausstellung der Union centrale des arts décoratifs (Zentralvereinigung der dekorativen Künste) Aufsehen, doch erst 1894 wurde in der Hauptstadt Lothringens eine Ausstellung dekorativer industrieller Künste veranstaltet, auf welcher erstmalig in Nancy ein Teil der Architektur gewidmet war. Der als Kunsttischler bekannte Eugène Vallin (1856-1922) präsentierte auf dieser Ausstellung den Entwurf der prachtvollen Speisezimmerdecke des Hauses, das er sich ab 1895 im Boulevard Lobau bauen sollte und welches als eines der ersten Manifeste des Jugendstils von Nancy betrachtet werden muss. Die inzwischen anerkannte und produktive Bewegung institutionalisierte sich im Jahr 1901 durch die Gründung der Alliance provinciale des industries d'art, genannt Ecole de Nancy (Schule von Nancy), die sich jedoch wenig um schöpferische Architektur kümmerte. Erst im Jahre 1904 widmete eine zweite Ausstellung den Architekten breiten Raum.

Jedoch führte die ökonomische und künstlerische Kraft nicht zu einer zielgerichteten städtebaulichen Entwicklung, da die kommunalen Behörden die Initiative privaten Interessenten überließen. Erst ab 1904 entschloss man sich, große Achsen zu bauen, die das Stadtzentrum mit den Vororten verbanden. Zwischen 1891 und 1911 beziffert man 3.500 Neubauten, von welchen lediglich 250 vom Jugendstil beeinflusst wurden, eine Zahl, die dennoch wesentlich höher lag als in anderen europäischen Städten zu dieser Zeit. Architekten, Ingenieure und Unternehmer teilten den Markt unter sich auf. Die Mehrzahl der Architekten ging aus der Ecole nationale des Beaux-Arts in Paris hervor und neigte eher zur klassischen Tradition. Dafür jedoch führten die Ingenieure, unter ihnen der Polytechniker Henri Gutton (1851-1933), neue Techniken und Materialien in die Baukunst ein, die zur Erneuerung der Formen beitrugen. Das größte Verdienst jedoch gebührt dem Kunsttischler Eugène Vallin, der völlig mit den althergebrachten Techniken brach: "Die Konstruktion muss der Bestimmung und dem Material entsprechen, die Ausführung muss so einfach, so logisch wie möglich sein. Eine solche gesunde Konstruktion darf durch nichts verborgen, sie muss offensichtlich werden (...). Moderne Verzierungen, geformt nach der Natur, verleihen der Konstruktion ihren Rahmen. Ihr Entwurf darf nur das Notwendigste verbergen, die Verbindungsstellen, die Nahtstellen."
Dies war eine Kriegserklärung an die traditionalistischen Architekten Nancys, aber der zu Beginn des Jahrhunderts erfolgte Bau der Villa Majorelle durch den Pariser Henri Sauvage (1873-1932) hatte nicht die erwartete Vorbildwirkung; dieses herausragende Werk, örtlichen Traditionen fremd, blieb zunächst ohne Nachahmer, nur der ausführende Architekt Lucien Weissenburger (1860-1929) zog daraus Konsequenzen. Während die traditionalistischen Architekten von Nancy den Niedergang der historischen Stile durch Hinzufügung regionaler Einflüsse verstärkten, entzog sich Emile André (1871-1933), der brillanteste von ihnen, diesen Einflüssen. Mehr als alle anderen verstand er die große Vielfalt der verfügbaren Materialien zu nutzen.

Die Steinbrüche von Euville, nahe Commercy, im Departement Meuse, lieferten einen weißlichen Kalkstein von außergewöhnlicher Qualität. Die überall gegenwärtige Vielfarbigkeit wurde verstärkt durch den Gebrauch von Ziegeln und dekorativen Elementen aus Sandstein. Aber auch modernes Baumaterial wurde nicht übersehen: Georges Biet, Vallin und André bedienten sich Stahlbetons, der zumeist mit anderen Werkstoffen übertüncht wurde, und Ingenieure wie Gutton verwendeten Stahl, dessen Gebrauch in manchen Fassaden deutlich zu Tage tritt. Die Architekten fügten mit Hilfe von zahlreichen Bildhauern, Malern, Kunstschlossern, Glasbläsern und -malern sowie Stukkateuren der Ecole de Nancy die gerade in Mode befindlichen naturalistischen Dekorationen hinzu: Monnaie-du-Pape (Lunaire), Klematis, Dolden, Mohn, Iris, Eiche, Ahorn, Kiefer - nur Jacques Gruber (1870-1936) benutzte auch seltene und exotische Pflanzen.
Die Themenvielfalt und Verschiedenheit der Materialien hat den Jugendstil Nancys zu einer in erster Linie floralen
Architektur gemacht. Die Qualität des Dekors zeigt die finanzielle Potenz der Geldgeber: Die Industriellen Royer,
Louis Majorelle (1859-1926) und Albert Bergeret (1859-1932)
gaben ein glänzendes Beispiel, gefolgt von den Großkaufleuten
(Eugène Corbin (1867-1952), Gründer der Magasins
Réunis) und den Banken.
Die extreme Formen- und Dekorvielfalt sowie ihre Kosten waren der Ausbreitung der Jugendstilarchitektur hinderlich. Die
stilistische Parenthese, Ausdruck einer wiedergefunden künstlerischen Freiheit, welche in jener Zeit allen von der
Modernität beherrschten Städten Europas gemeinsam war, hörte nach 1910 fast vollständig auf.
Quelle: Francis Roussel, Nancy Architecture 1900, Éditions Serpenoise 1998