Der Jugendstil

Jugendstil

Unter dem Begriff Jugendstil werden im Allgemeinen sämtliche Strömungen der Kunst verstanden, die um die damalige Jahrhundertwende in Abkehr vom Traditionalistischen Neues hervorbrachten, sich vom Gewohnten distanzierten. Insofern steht dieser Begriff einerseits für eine kunstgeschichtliche Epoche, die etwa 30 Jahre umfasst, um 1880 ihren Anfang nahm und nicht nach lange der Jahrhundertwende zu Ende ging. In fast der gesamten Welt hat sich für diese modernen Strömungen der französische Ausdruck Art Nouveau, d. h. neue Kunst, durchgesetzt. Ursprünglich rührt diese Bezeichnung von der Kunstgalerie und dem Laden "Maison de l'Art Nouveau" des Hamburgers Samuel Bing in Paris her, der sich auf diese neue Kunstrichtung spezialisiert hatte. Die deutsche Bezeichnung Jugendstil wurde geprägt durch den Titel der Münchener Kunstillustrierten "Die Jugend". Die ebenfalls noch übliche italienische Bezeichnung stile libero bzw. die englische Style Liberty verdanken sich dem gleichnamigen englischen Kaufhaus, welches im neuen Stil erbaut wurde und Ausstellungen moderner Kunsthandwerker organisierte. Vor allem in Österreich und den Ländern der damaligen Donaumonarchie spricht man als Gattungsbegriff auch vom Sezessionsstil, abgeleitet von der Wiener Sezession; in diesem Begriff von (lat.) "secessio", die Trennung, ist die Absicht der Künstler, sich vom traditionellen Kunstbetrieb zu distanzieren, noch lebendig.

Der Begriff Jugendstil oder Art Nouveau dehnt sich dabei von den frühesten Anfängen der englischen Arts-and-Craft-Bewegung bis hin zu Bauwerken, die schon eine Vorstufe zur Art Deco oder gar dem Bauhaus darstellen, wie beispielsweise das Palais Stoclet in Brüssel oder das Geschäftshaus Goldman & Salatsch am Michaelerplatz in Wien. Diese Kunstrichtung ist nicht aus Einflüssen der europäischen Geschichte hervorgegangen, sondern ist ein experimenteller Stil, der aus der Abkehr der herrschenden Stile, quasi als Kontrapunkt, entstanden ist. Man kann ihn in zwei Hauptströmungen unterteilen.

Die verbreitetste Spielart ist sicherlich der so genannte florale Jugendstil, eine Mischung aus barocken, orientalischen und klassizistischen Elementen, zum Teil stark von japanischer Kunst beeinflusst, der eine Abkehr vom Althergebrachten zum Ausdruck bringen wollte und sowohl den Geist der Belle Epoque spiegelt als auch prägend auf diesen einwirkte. Das Charakteristische hierbei ist die Abwesenheit jeglicher geraden Linie und jeglichen rechten Winkels. Er ist geprägt durch langzügig fließende Linien und weiches An- und Abschwellen der Formen. Seine Vorbilder holte er sich aus der Natur; als ursprünglich rein dekorative Kunst wurden dabei ornamentale Formen, die sich an Blumen und Blättern orientierten, bevorzugt. Die meisten Arbeiten des Jugendstil erinnern an lebende Organismen. Die verschlungenen pflanzlichen Linien erzeugen einen Eindruck von Leichtigkeit und Charme. Viele Jugendstilkünstler verstanden etwas von der Botanik und nutzten die gewundenen Formen der Pflanzenwelt; bevorzugte Blumen waren Lilien, Iris und Orchideen, sehr beliebt waren auch orientalische Motive wie Palmwedel, Papyrus, Seegras. Ebenso diente die Tierwelt als Vorlage zur Gestaltung stilisierter Formen; man findet darunter Insekten und farbenprächtige Vögel - die Libelle, den Pfau, die Schwalbe, den Schwan. Auch der weibliche Körper wurde gerne als dekoratives Gestaltungselement genutzt, besonders in Verbindung mit langen, aufgelösten und wallenden Haarmassen, in fantasiereichen Kräuseln und Wellen. Essentielle Werkstoffe des Jugendstils sind Farbe, Glas und Licht, in der Innenarchitektur und Möblierung kommen weiche, honigfarbene Holze hinzu, in der Baukunst Eisen. Die Verbindung dieser Werkstoffe erzeugte den Effekt von fantasievoller Leichtigkeit und sogar Instabilität. Die neue Kunstrichtung bildete den krassen Gegensatz zu den zwar oft reich verzierten, dennoch meist düsteren und strengen Bauten der Gründerzeit. Man findet diesen Stil in einem breiten Streifen durch den europäischen Kontinent von West nach Ost, von Paris, Nancy und Brüssel über Dresden und München, Prag und Budapest bis nach St. Petersburg und Riga. Wesentliche Vertreter dieser Richtung waren neben unzähligen anderen Hector Guimard, Eugène Vallin, Victor Horta, Henry van de Velde oder August Endell.

Eine äußerlich davon grundverschiedene Spielart ist der geometrische Jugendstil. Er zeichnet sich durch zumeist strenge und gerade Linienführung sowie klare und häufig symmetrische Baukörper und Öffnungen aus. Auch die Verwendung von Farbe ist deutlich zurückhaltender, oftmals wird sogar der reine Schwarz-Weiß-Kontrast bevorzugt. Hauptvertreter dieser Linie in nahezu kompromisslosem Stil war der Glasgower Charles Rennie Mackintosh, dessen Werke im Jahr 1900 in Wien ausgestellt wurden und auf die dortigen Sezessionisten, allen voran Otto Wagner, einen so großen Eindruck machten, dass sich dieser Stil in abgemilderter Form in Wien und in der Wiener Werkstätte stärker durchsetzte als der florale Stil.

Eine dritte Spielart verbindet sich mit einem einzigen Namen: Antoni Gaudí. Ganz offensichtlich aus dem floralen Jugendstil entstanden, sind die unverkennbaren Einflüsse der maurischen Geschichte Spaniens dominierend. Seine Bauten in Barcelona sind oft grell-bunte Mosaike, viel Naturstein, wenig glatte Flächen, fantasievolle Formen, die die Grenzen des Stils ausloten. Selbst ein Bau wie die gigantische Kirche Sagrada Familia entspricht diesen Attributen im Großen und Ganzen. Doch auch Gaudí kann mit kühler Strenge bauen, wie man im Inneren des Colegio Teresiano sehen kann.